Der Wolfsburg Marathon – meine Nummer 1

Es sind noch 14 Minuten bis zum Start und ich stehe an 7. Position in der Dixie-Klo-Schlange. Alles also wie immer vor einem Marathon. Es ist heute mein 14. Und dennoch ist irgendwie ganz viel anders. Gleich mache ich mich auf, um 42,195 km durch Wolfsburg zu rennen. Durch die Stadt, die sich wie ein Tattoo in mein Herz gebrannt hat. 

Bis dato verband ich mit Wolfsburg Autos und Fußball – mehr nicht. Doch am 9.9.2018 durfte ich dort meinen ersten Marathonsieg feiern. Eine Veranstaltung kennenlernen, die so professionell und gleichzeitig mit so viel Herzblut organisiert ist. Ich durfte die weltbeste Fahrradbegleitung durch Jörg genießen. Und ich erlebte so viele tolle Leute am Streckenrand – Zuschauer und Helfer gleichermaßen. Es war einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Und genau aus diesem Grund wusste ich nicht, ob ich dieses Jahr wieder starten soll. Denn so etwas Großes kann man nicht wiederholen. Da war ich mir sicher. Zwar meldete ich mich bereits am 19. Februar an, war aber bis vor Kurzem unschlüssig. 

Dann erreichte mich vor einer Woche die Nachricht, dass ich die Startnummer 1 tragen darf. Was für eine Ehre! Und natürlich war damit die Entscheidung FÜR einen Start endgültig besiegelt. Die letzten Tage war deshalb auch extrem hart. Ich hatte alle 5 Minuten das Gefühl, Hals-/Zahn-/Hüft-/Fußschmerzen zu bekommen – ich nenne es Pre-Marathon-Hypochondrie. Wenn man zusammenzuckt, sobald im Umkreis von 5 Kilometern jemand niest, ist das wirklich verdammt anstrengend. 

Stolz auf die Nummer 1
Am Marathon-Morgen
Die Maskottchen im Allgäu

Nun ist es aber soweit. Ich bin fit, gesund, mega motiviert und überglücklich, gleich losrennen zu dürfen. Ich war schon am Vortag angereist und hatte einen total lustigen Abend bei der leckeren Nudelparty in der Volkswagen Arena. Das Hotel war auch ganz nett, und ich konnte heute Nacht tatsächlich 5 Stunden schlafen. Mein Energielevel ist also auf Anschlag – mein Adrenalin ebenfalls. Vier Minuten vor dem Startschuss stehe ich endlich „in Position“. Es erklingt das Lied „Bella Ciao“, wenig später zählen wir den Countdown und dann gehrt die Reise los. 42,195 km – mein riesengroßer Respekt vor dieser Distanz ist auch bei meinem 14. Mal kein bisschen kleiner geworden. 

Ich bahne mir meinen Weg durch die Athleten und finde mich schnell im vorderen Läuferfeld ein. Knapp 200 Marathonis sind es heute. Meine Beine fühlen sich, wie auch schon beim Warmlaufen, sehr gut an. Alle Zipperlein der vergangenen Wochen sind verschwunden. Ein Blick zur Uhr mahnt mich, etwas Tempo rauszunehmen. Gleichzeitig fasse ich den Entschluss, heute die sub3:10 h in Angriff zu nehmen. Ich bin richtig glücklich – auch, weil ich mich im Frauenfeld an die Spitze setzen kann und nach gut einem Kilometer auf Jörg treffe. Ich begrüße ihn freudigst und hoffe soooo sehr, dass ich ein ganz ganz langes Stück von ihm begleitet werden darf. Mehr wollte ich mir in diesem Moment nicht vornehmen. Die ersten Kilometer durch die Innenstadt sind schon wieder der Oberknaller, die Zuschauer und Helfer hatte ich im letzten Jahr nicht umsonst so sehr ins Herz geschlossen. 

Wir laufen nun in Richtung Autostadt, auf diesen Streckenabschnitt freue ich mich total. Überhaupt freue ich mich total, dass ich heute so fit in Wolfsburg laufen darf – bei allerbestem Laufwetter. Die Sonne scheint, es hat etwas über 15 Grad. Ich winke ein paar Zuschauern zu, die mich so lieb anfeuern und checke mal wieder meine Pace. 4:27 min/km – jawoll. Schneller darf es auf keinen Fall werden, das rächt sich sonst, sage ich mir.

Ich weiß nicht mehr genau, ob es bei KM 5 oder 7 war – wohl irgendwo dazwischen. Jörg dreht sich nicht nur um, sondern hat auch eine Info für mich: „Jetzt keinen Schock bekommen, aber die 2. Frau ist ca. 50 Meter hinter dir. Keine Ahnung, was sich da entwickelt. Aber du machst das super, lauf so gleichmäßig weiter.“ WUMS! Es war genau dieser Moment, den ich wochenlang befürchtet hatte. Auf den ich mich mental vorbereitet hatte. Ich wollte auf keinen Fall hier antreten, um zu gewinnen. Ich wollte die Startnummer mit Stolz und Glücksgefühl durch Wolfsburg tragen, aber mir auf keinen Fall einen (zu großen) Druck machen. Ich wollte einfach nur mein Rennen laufen. Einen glücklichen Marathon rennen. Doch diese Situation bringt alles durcheinander. 

Ich versuche, mich wieder zu sammeln und mich auf meinen Lauf zu konzentrieren. Und vor allem Spaß zu haben! Die Zuschauer sind einfach so so toll! Wie oft höre ich meinen Namen, wie oft werde ich so emotional bejubelt. Genauso von den Helfern. Ein Mädel an einem Verpflegungsstand ruft: „Martina Marathoni“ – es ist mein Instagram-Name. Wow. Doch ich habe zu kämpfen. Nicht körperlich, denn mir geht es sehr gut. Aber mental. Ich will allenfalls jagen, aber nicht die Gejagte sein. In jedem Wettkampf hätte ich damit besser umgehen können, aber nicht hier. Und genau das ärgert mich dann auch gleichzeitig wieder. Wo ist denn meine Lockerheit, meine Fröhlichkeit, meine riesengroße Leidenschaft geblieben? 

Ich bereite mich gedanklich auf den Moment vor, wenn es soweit ist. Wenn ich überholt werde und Jörg „hergeben“ muss. Das ist mindestens genauso hart wie die Führung abgeben zu müssen. Denn Jörg ist wieder so großartig. Er gibt mir immer mal wieder ein paar Infos zu Wolfsburg, neuen Bauprojekten und bestärkt mich in meinem Rennen. Und das läuft „körperlich“ weiterhin gut, ich kann meine Pace halten. 

Dann geht es tatsächlich schon in Richtung Halbmarathon-Marke, was in Wolfsburg bedeutet, die erste Runde ist gleich geschafft. Wir laufen erneut durch die Innenstadt – hier tobt die Stimmung, ich freute mich schon total. Und dann werde ich auch noch so lieb empfangen. Liebe Wolfsburger, ihr seid einfach großartig! Der Moderator und ich klatschen uns ab, es ist mega! Kaum bin ich an ihm vorbei, höre ich ihn sagen: „Doch sie wird verfolgt. Wir begrüßen die 2. Frau…“ Ich weiß also, wie knapp mein Abstand ist. Nach wie vor.

Auf dem weiteren Weg durch die Innenstadt kocht die Stimmung – meine ganz persönliche ebenfalls. Ich weiß bis heute nicht, wie ich es geschafft habe: Bei KM 22 sind auf einmal meine riesengroße Freude und meine Gelassenheit zurück. Okay, wenn es mit dem Sieg nicht klappt, dann ist es eben so. Ich konzentriere mich jetzt nur noch auf mich, die großartige Strecke und Stimmung. Und meine Zeit. Denn ich fühle mich noch verhältnismäßig frisch und habe richtig Bock. Darüber informiere ich auch Jörg. „Die Platzierung werde ich wohl nicht halten können, aber ich will unter 3:10 h laufen.“ Und der antwortet in seiner großartigen Gelassenheit: „Wenn du dieses Tempo hältst, schaffst du das auch. Und nicht nach hinten schauen.“ 

Ich genieße jeden einzelnen Zuruf von Zuschauern und Helfern. Es ist mittlerweile recht warm, daher schütte ich mir an jedem Verpflegungsstand Wasser ins Gesicht oder presse einen Schwamm aus. Zum zweiten Mal laufen wir durch die Autostadt. Dort ist es kurvig und wellig. Und natürlich sind meine Beine bei Weitem nicht mehr so frisch wie in Runde 1, dennoch habe ich Spaß. Mehr als je zuvor.  

Auch der erneute Durchlauf in der Volkswagen Arena ist einfach genial. Ich stelle mir vor, wie hier die Fußballprofis für ihren Erfolg kämpfen und nehme ein Stück dieser Energie mit. Selbige kann ich auch gut gebrauchen, denn so langsam schwinden die Kräfte dann doch ein bisschen. Mir geht es trotzdem noch prima. Als wir durch den wieder sehr kurvenreichen wie wunderschönen  Schlosspark laufen, wage ich wieder einen Blick „nach hinten“. Direkt auf den Fersen ist die 2. Frau nicht mehr, doch ich habe auch nur ca. 100 Meter nach hinten im Blick. Ich konzentriere mich einfach weiter auf mein Rennen, das härter und härter wird. Der Marathon hat angefangen, denke ich und schmunzle vor mich hin. Ich bin so happy, dass ich meine Fröhlichkeit wieder zurück habe. 

Ich genieße das Stück am Allersee entlang, es ist einfach wunderschön dort. Meine Beine sind inzwischen allerdings richtig schwer. Ich muss mehr und mehr Energie aufwenden, um meine Pace, die nach wie vor knapp unter 4:30 min/km liegt, zu halten. Immer wieder denke ich an die Worte meiner Mama. „Die Gedanken sind’s“. „Alles ist möglich“. Dass Mama jetzt im Allgäu garantiert ganz fest an mich denkt und mitfiebert, gibt mir so viel.

Nun geht es eine Runde durch das alte Vfl-Stadion. Hier war ich im März bei der Leistungsdiagnostik bei André Albrecht vom Trainingsinstitut Intro. Ich habe sehr wertvolle Tipps erhalten. Bis dato war ich in meinem Training fast nur im Rekom-Bereich unterwegs, bin also viel zu langsam gelaufen. Schrittweise habe ich dann meine Pace im Training erhöht und war sehr gespannt, wie sich das auf den Marathon auswirkt.

Die letzten 5 Kilometer. Meine Beine fühlen sich wie Betonklötze an. Es tut irgendwie alles weh, zum Glück sind es aber die „normalen Marathonschmerzen“ und keine „echten“. Allerdings fangen nun beide Beine zum Krampfen an. Verdammt. Ich versuche, gegenzusteuern. Es gelingt so einigermaßen. Doch es krampft immer wieder. Füße, Waden. Wenn die Beine nicht mehr können, laufe mit deinem Herzen. Genau das mache ich.

Jörg ist weiterhin mein Held. Er pusht mich immer wieder. Motiviert mich, zu beißen. Sagt mir, wie super ich das mache. Was für ein toller Mensch! Ich weiß, dass ich gleich nochmals richtig fett beißen muss. Denn es naht zum zweiten Mal der „Anstieg“ im Waldstück. Okay, nicht vergleichbar mit meinen Allgäuer Bergen. Gefühlt aber wie der Mount Everest. Aber ich schaffe es ohne allzu große Tempoeinbußen. Yeah! 

Ich habe tatsächlich schon 40 Kilometer hinter mir. Und führe immer noch. Da ich körperlich fix und fertig bin, traue ich mich aber noch gar nicht, an den Sieg zu denken. Mein Herz lacht trotzdem. Kurz vor Kilometer 41 geht es über ein kleines Stück Wiese, dann folgt der Tunnel. Und dann biege ich auf die Pestalozziallee. Ich raffe es kaum. Nur noch diese Straße ein Stück hinunter, und von dort aus darf ich dann „schon“ nach links auf die Zielgerade biegen. Meine Beine sind so schwer, dass ich kaum mehr rennen kann. Und gleichzeitig kann ich keine Pace sogar noch erhöhen. Zum ersten Mal lasse ich den Gedanken zu. Ich werde vielleicht tatsächlich gewinnen. Den Wolfsburg Marathon. Zum zweiten Mal. Mit der Startnummer 1. 

Mein Zieleinlauf – niemals werde ich diese Emotionen vergessen.
Fotocredit: Wolfsburger Nachrichten


Jetzt renne ich geradeaus aufs Ziel zu. Die Zuschauer an der Strecken sind der Oberhammer. Sie jubeln mir so super lieb zu. Ich bin fix und fertig und gleichzeitig überglücklich. Mir laufen die Freudentränen übers Gesicht und ich genieße diese letzten Meter so sehr. Als ich dann auf der Uhr auch noch sehe, dass ich unter 3:10 Stunden die Ziellinie überqueren werde, weiß ich irgendwie gar nicht mehr, wohin ich mit meiner Freude und Dankbarkeit soll. Ich gehe kurz zu Boden und falle danach erstmal Jörg um den Hals. Völlig überwältigt, völlig überglücklich, völlig fassungslos. Ich konnte dieses großartige Erlebnis vom letzten Jahr tatsächlich wiederholen.  

(Eventdatum: 8.9.2019)

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