Fünf rote Herzen

Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich hoffe, dass ich an diesem 31.10.2020 aufwache, in meiner Hamburger Wohnung, erleichtert die Augen öffne und so heilfroh bin, dass das alles ein Traum war. Ein verdammt schlechter und fieser Albtraum. Ich hätte wahrscheinlich Angst, dass dieser Traum eine Art Vorahnung oder Botschaft gewesen sein könnte. Bei meinem täglichen Telefonat mit meiner Mama würde ich ihr davon erzählen und höre sie nur sagen: „So ein Blödsinn.“

Als ich an diesem besagten Tag, einem Samstag, aufstehe, ist es kurz nach 8 Uhr. Ich deaktiviere den Flugmodus meines Smartphones und sehe, dass Mama mir bereits zwei Nachrichten geschickt hat. „Zum heutigen Tag 🙂 🙂 “. Sie hat zwei Seiten aus ihrem Buch, das von keltischen Ritualen handelt, abfotografiert. Am 31. Oktober wird Samhain gefeiert – es ist vergleichbar mit Allerheiligen. An diesem Tag gedenken die Kelten ihrer Verstorbenen und feiern sie. Es heißt, der Schleier zur anderen Welt sei heute besonders dünn, man könne mal kurz auf „die andere Seite“ schauen. Außerdem ist es ein Tag zum Loslassen, perfekt für einen Neuanfang. „Wie passend“, schreibe ich zurück. „Dann werde ich heute auch Samhain feiern“. Denn ich will tatsächlich neu anfangen.

Das Jahr war bislang sehr anstrengend, die Corona-Pandemie hat mir, wie wohl fast jedem, echt zugesetzt. Finanzielle Einbrüche, berufliche Unsicherheit – und vor allem die Angst um die Gesundheit. Meine eigene natürlich, aber noch mehr sorge ich mich um meine Mama. Sie ist 70 und somit eigentlich Risikogruppe. Eigentlich. Denn meine Mama zählt sich selber nicht dazu. Sie ist kerngesund, fit, voller Tatendrang und mit zahlreichen Projekten beschäftigt. Mit Corona geht sie sehr gelassen um. Zwar hält sie sich gewissenhaft an alle Regeln, macht sich aber nicht verrückt. „Laut meinem Lebensplan habe ich eh noch so viel zu tun“, sagt mir Mama immer wieder.

Erst gestern hatten wir bei unserem täglichen Telefonat wieder darüber gesprochen. Meine Mama wird nämlich 97 und hat für die nächsten 27 Jahre so einiges auf dem Zettel. Viele ihrer To Dos drehen sich um die Natur, insbesondere Bäume und Steine, Tiere, ihre Malerei. So hat meine Mama, die über 40 Jahre als Bilanzbuchhalterin gearbeitet hat, mit Beginn ihrer Rente Geomantie studiert, ihr Online-Magazin LOmena gegründet, eine Ausbildung zur Wanderführerin absolviert. Und sie stellt wunderschöne Kunstwerke her, indem sie etwa Bilder und Steine bemalt. Eines ihrer aktuellen Herzensprojekte ist ein Steinlabyrinth in ihrem Wohnort, in unserer Heimat – im wunderschönen Allgäu.

Das Labyrinth auf dem Kalvarienberg in Sonthofen

Dieses Labyrinth gibt es seit vielen Jahren. Doch mit der Zeit verwucherte es und war kaum mehr als selbiges zu erkennen. Das soll sich jetzt ändern. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Schulkameraden will meine Mama es wieder auf Vordermann bringen – und zwar heute. „Viel Spaß und gutes Gelingen“ wünsche ich ihr und bin ein bisschen wehmütig. Denn eigentlich wäre ich heute ebenfalls mit dabei. Ich habe meine Reise ins Allgäu aber verschoben, da ich Ende des Monats sowieso wieder dorthin ziehen werde. Erstmal für zwei bis drei Monate, um zu schauen, wo ich dann wirklich wohnen möchte. Vielleicht Richtung München, Ammersee, mal sehen. „Anstatt jetzt ins Allgäu zu reisen, nutz die Zeit lieber in Hamburg, um deine Sachen zu packen“, riet mir Mama noch vor ein paar Tagen.

2 Sätze – zehn Worte

Es ist 8.33 Uhr, als ich Mama noch fünf rote Herzen schicke – so endet meistens unsere WhatsApp-Conversation. Ein bisschen lümmle ich im Bett herum, bevor ich zu meinem Lauf aufbreche. 13 Kilometer sollen es heute werden. Normalerweise ist das für mich, als Langstreckenläuferin, nicht viel. Doch vor 13 Tagen bin ich einen Marathon gelaufen – meinen 15. – in Cuxhaven. Noch immer bin ich super happy über meine neue Bestzeit von 3:08:28 Stunden und den 3. Platz bei den Frauen. Mein Lebenstraum ist es, den Marathon unter 3 Stunden zu schaffen. „Vorher gehe ich nicht von dieser Welt“, ist mein Credo. Ich bin selbst gespannt. Heute jedenfalls, ist nur ein gemütliches Tempo geplant. Regeneration nach einem Wettkampf, insbesondere einem Marathon, ist mir sehr wichtig. Zudem werde ich nachher in die Stadt radeln und mich mit einer Freundin treffen. Wir wollen Eisessen. Das Wetter ist zwar grau und nicht wirklich sommerlich, aber macht nichts. Eis geht immer.

Als ich um kurz vor 10 Uhr wieder vom Laufen zurückkomme, sehe ich zwei Anrufe in Abwesenheit auf meinem Handy-Display. Eine Mobil- und eine Festnetznummer. „Sehr schön“, freue ich mich. Da ich ja (vorübergehend) ins Allgäu ziehen möchte, habe ich heute ein Gesuch für eine „Wohnung auf Zeit“ in der Tageszeitung veröffentlicht. Erstmal duschen, Kaffee machen, dann rufe ich zurück. Gut gelaunt singe ich ein bisschen vor mich hin und überlege, was ich gleich anziehen soll. Es hat circa 10 Grad. Zum Radfahren brauche ich Frostbeule schon fast einen Skianzug. Bevor ich mich hungrig über mein Frühstück hermache, tippe ich neugierig auf den verpassten Anruf Nummer 1. Eine sympathische Dame bietet mir ihre Ferienwohnung in Stein bei Immenstadt an. Klingt alles super. Ich solle mir doch die Fotos auf ihrer Website anschauen und mich bei Interesse wieder melden. Werde ich garantiert.

Nun aber erst mal die zweite Nummer auf meinem Display anwählen. Es meldet sich ein Anrufbeantworter. Und zwar kein unbekannter. Es ist der Anschluss von meiner Tante und meinem Onkel. Ich lege wieder auf – und muss laut lachen. Da die beiden ebenfalls Ferienwohnungen vermieten, haben sie sich bestimmt auf meine Anzeige gemeldet. Nur wenig später klingelt mein Telefon. Es ist meine Taufpatin. Sie vermietet ebenfalls – wie fast alle in meiner großen Familie – Ferienwohnungen. Will sie mir etwa auch ein Angebot machen? Fröhlich nehme ich den Anruf entgegen. Am anderen Ende der Leitung ist aber nicht meine Taufpatin, sondern mein Onkel. Der Onkel, dessen Anrufbeantworter ich gerade noch „an der Strippe“ hatte.

„Ich habe leider eine schlechte Nachricht. Deine Mutter ist gestorben“.

Zwei Sätze, zehn Worte, die ich nie wieder aus meinem Kopf und aus meinem Herzen bekomme. Die von jetzt auf gleich mein Leben zum Stillstand bringen. Die von jetzt auf gleich meine Welt zum Einstürzen bringen. Aber, so viel sei an der Stelle gesagt, werde ich meinem Onkel auf ewig dankbar sein, dass er den Mut und die Stärke hatte, mir diese Nachricht zu überbringen und mich über den Tod meiner über alles geliebten Mama zu informieren.

Rund eine Stunde später stehen drei Polizisten in meiner Wohnung – zusammen mit zwei Rettungssanitätern und einer Notärztin. Nachdem ich bis zu deren Eintreffen nur geschrieen hatte, mein Blutdruck explodierte und ich in Endlosschleife wiederholte, dass ich nicht mehr leben will, nehmen sie mich mit in die Klinik. Obwohl ich Krankenhäuser als Vorstufe zur Hölle empfinde, willige ich ein, erst einmal dort zu bleiben. Weil ich nicht mehr weiß, wie ich auch nur eine weitere Sekunde ohne meine Mama weiterleben soll. Wie ich auch nur eine weitere Sekunde diese Ohnmacht und Fassungslosigkeit ertragen soll. Wie ich auch nur eine weitere Sekunde diesen unerträglichen Schmerz aushalten soll.

Mama und ihr Lieblingsesel Uschi

Wie soll es weitergehen?

„Wenn ich mit dir telefoniere, ist es wie eine Wellness-Anwendung“. Jeden Tag, ich erwähnte es bereits, habe ich mit meiner Mama telefoniert. Dabei war ich eher die treibende Kraft. Mama war also nicht eine Art „Glucken-Mutter“, sondern ließ mich zu 100 Prozent mein Leben leben. Bestärkte mich sogar darin. Klar, es gab regelmäßig „gute Ratschläge“, so wie Mamas das eben machen. Oder in unserem Fall kamen die guten Tipps und Weisheiten von zwei Stoffeseln, namens „Wischels“. Wischel klein und Wischel groß. Später kam auch noch Bodo dazu, ein Frosch. Mama hatte ihnen allen eine Stimme verliehen und so „sprachen“ die drei tagtäglich mit mir. Was haben wir gelacht und uns oft vorgestellt, wie irritiert (und eventuell besorgt) wohl einige Mitmenschen sein würden, wenn sie von den „sprechenden und ratgebenden“ Stofftieren wüssten.

Jedenfalls hätte mir Mama niemals ihren Willen aufgezwungen oder wäre beleidigt gewesen, wenn ich es anders mache, wie sie (oder die Wischels) es mir empfohlen hätten. „Hauptsache du bist glücklich“, hat sie mir so oft gesagt. Und das war ich. Natürlich gab es Tiefs in meinem Leben. Doch auch in den unglücklichsten Phasen meines zu diesem Zeitpunkt 42-jährigen Daseins gab es stets diesen Anker, diesen Lichtblick: Mama und unsere so enge und großartige Beziehung.

Wie soll ich ohne Mama weiterleben? Nicht annähernd finde ich eine Antwort auf diese furchtbare Frage, die nun seit knapp 24 Stunden nach Mamas plötzlichem Herztod in meinem Kopf wütet. Die Nacht im Krankenhaus habe ich kaum geschlafen. Wollte ich auch nicht. Viel zu groß war die Angst vor dem Gefühl beim Aufwachen. In meinen Klamotten und einem Stein in der Hand, den meine Mama bemalt und mir als Preis für einen virtuellen Laufwettkampf geschenkt hat, lag ich also wach in meinem Bett – ein Gefühl der absoluten Leere wechselte sich mit absoluter Verzweiflung ab. Obwohl ich mit Beruhigungsmitteln vollgestopft wurde, habe ich von deren Wirkung nichts gespürt. Außer, dass es mir irgendwann kotzübel war und ich mich somit heute Morgen nicht nur auf eigenen Wunsch entlassen, sondern zudem weitere Medikamente verweigert habe. „Entweder ich halte es so aus und finde einen neuen Weg für mich oder ich lebe eben nicht mehr weiter“, lautet mein Entschluss. Dass ich mir wirklich etwas antun will bzw. wollte, ist allerdings nicht der Fall. Könnte ich hingegen auf einen Knopf drücken und mich einfach auflösen, würde ich es auf der Stelle machen.

Mama und unsere so großartige Beziehung – für immer mein allergrößtes Geschenk

Während ich im Schneckentempo vom Krankenhaus zu meiner Wohnung laufe, fühle ich mich eh nicht mehr auf dieser Welt. Zwar ist meine Mama gestorben, doch ich komme mir ebenfalls vor, wie aus dem Leben gerissen. Heute Abend reisen meine Taufpatin, mein Onkel und meine Cousine aus dem Allgäu an, um mich abzuholen. So oft habe ich Freunden und Bekannten von meiner tollen, großen Familie erzählt. Obwohl meine Kernfamilie ausschließlich aus meiner Mama bestand – früher zählten auch meine geliebten Großeltern dazu – ist meine „komplette Familie“ riesengroß. „Wenn ich in Not wäre, würde sich jemand ins Auto setzen und zu mir nach Hamburg kommen“, war ich seit jeher überzeugt. Es war ein schönes und beruhigendes Gefühl. Ich hätte mir jedoch so sehr gewünscht, dass es niemals so weit kommen würde.

22 Monate später

Heute sind fast 22 Monate vergangen. 22 Monate, in denen ich mehr überlebt als gelebt habe. In denen dieser Schmerz und diese Fassungslosigkeit kein bisschen weniger geworden sind. In denen fast kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht geweint habe. Es sind aber auch 22 Monate vergangen, in denen ich 3 Marathons und mehrere Wettkämpfe gelaufen bin, meine 2 Pflege-Eseldamen kennen und lieben gelernt habe, ich schon wieder 4 Gin Tonics getrunken und unzählige Male Tränen gelacht habe – meistens wegen irgendwelchen Dingen, die wahrscheinlich sonst kein Mensch lustig findet. Wäre es nicht so ein trauriges Thema, wäre ich beinahe fasziniert von der Trauer. Das mag saublöd klingen, deshalb versuche ich es zu erklären.

Mamas Berg

Ich habe mich ehrlich gesagt nie so viel mit dem Thema Tod und Trauer befasst. In erster Linie deshalb, weil ich eine panische Angst davor hatte, meine Mama zu verlieren (meine Mama hatte dazu hingegen eine völlig andere, gelassene Einstellung). Als meine Oma und mein Opa gestorben sind, war das total schlimm für mich, da sie mir alles bedeutet haben – und es immer tun werden. Obwohl ich beide bis heute sehr vermisse, habe ich es trotzdem einigermaßen gut geschafft, damit klarzukommen. Dass auch meine Mama mal stirbt, das war mir selbstverständlich bewusst, doch ich wollte darüber nicht nachdenken. Es wegschieben. Daran glauben, dass sie 97 wird. Punkt. Einmal habe ich es gewagt, meiner Mama zu sagen, dass ich lieber vor ihr sterben würde. Dieser Anschiss hallt noch heute in meinen Ohren nach.

Obwohl ich mich mit Tod und Trauer nicht auseinandersetzen konnte und wollte, war mir eins klar: Eine große Trauer bedeutet garantiert den großen KO-Schlag. Ich kann wochenlang, monatelang oder gar Jahre nicht mehr lachen. Nichts mehr genießen. Keine Freude empfinden. Keine Emotionen spüren außer Traurigkeit. Ich habe mich getäuscht – zum Glück.
In den ersten Wochen nach Mamas Tod konnte ich tatsächlich einiges nicht mehr. Nicht arbeiten, nicht lesen, nichts im TV anschauen, keine Musik hören, nicht schlafen. Ich konnte mir zudem nicht vorstellen, jemals wieder einen Marathon oder überhaupt einen Wettkampf zu laufen, jemals wieder mit Freunden was zu unternehmen, zu reisen. Es hat teils mehrere Wochen oder sogar Monate gedauert, aber das Meiste ist wieder Bestandteil meines Lebens. Bis auf Kirchenmusik hören, Mama-Videos anschauen und „feiern gehen“ – aber das muss ja nicht unbedingt sein.

Mamas wunderschöne Bilder…
… die sie mit so viel Liebe und Begeisterung gemalt hat.

Trauer bedeutet nicht, dass alles andere aufhört. Es gibt zwar schon einige – kleine und große – Veränderungen in meinem Leben, aber vieles ist geblieben. Trauer bedeutet ebenfalls nicht, dass man nur weinend zuhause sitzt und keinen Spaß mehr haben kann. Diese Unbeschwertheit ist weg – ob sie je wiederkommt, ich weiß es nicht. Aber ich empfinde Momente des Glücks – und das ist verdammt viel wert. Wenn meine Pflege-Eseldamen zur Begrüßung auf mich zurennen, wenn ich einen Laufwettkampf erfolgreich beende, wenn ich nach einem Hitzelauf mit voller Laufmontur in den See hüpfe, wenn ich drei Kugeln Eis in der Waffel oder Käsekuchen esse, wenn ich auf „Mamas Berg“ stehe, wenn ich bei meinem Lieblingsfriseur im Münchener Glockenbachviertel sitze oder im Kreise meiner Familie bin – dann fühle ich mich glücklich. Vielleicht heule ich fünf Minuten später los, weil ich gerade an einem Foto in den Untiefen meines Handys hängen geblieben bin oder mich einfach etwas an Mama erinnert. Das hat nichts mit Gefühlsschwankungen zu tun. Das ist einfach Trauer.

Ich glaube, diese 22 Monate habe ich emotional vor allem durch eins überlebt: meinen Humor, den ich selbst durch Mamas Tod nicht verloren habe. Das ist wohl die Genetik, und dafür bin ich unfassbar dankbar. Wie ich schon erwähnt habe, ich kann mich nach wie vor totlachen – über Witziges und vor allem weniger Witziges. Wenn ich total traurig bin, denke ich an manche Situationen und muss lachen. Es ist wie ein Reflex. Es ist wie eine Erholung, eine Auszeit von der Trauer. Auch wenn ich unter Menschen bin – ob beruflich oder privat – geht es mir sehr oft gut, selbst wenn der Tag davor und danach richtig beschissen war. Ich kann die Trauer nicht ausblenden, sie ist immer da. Aber wenn ich in einer „guten Energiewolke“ bin, kann ich ganz anders damit umgehen.

Wer mich und meine Geschichte nicht (gut) kennt, würde vermutlich gar nicht auf die Idee kommen, dass ich um meine Mama trauere. Man könnte also sagen, ich führe eine Art Doppelleben oder habe zwei Gesichter. Eines, das weint und trauert, das andere, das fröhlich ist und strahlt. Und nein, ich habe keine zwei Gesichter. Ich bin immer ich. Martina, die trauert, weint, lacht, rennt, isst, wandert, radelt, arbeitet, Esel striegelt und in überfüllten Zügen abkotzt. Und ich glaube, ich kann mich sogar verlieben. Das hätte ich vor 22 Monaten komplett ausgeschlossen. Aber nein, das ist wieder möglich – davon bin ich fest überzeugt.

Glücksgefühle beim Rhein-Ruhr-Halbmarathon, bei dem ich mit neuer persönlicher Bestzeit 3. geworden bin
An Mamas 1. Todestag bin ich für sie (und mit ihr) den Luzern Marathon gelaufen

Weil ich es einfach sagen will

Immer wieder bin ich überwältigt, wie viele Menschen so toll zu mir sind. Meine Tanten, Onkels, Cousinen, Cousins, der Mann meiner Mama, mein Vater, Freunde, Bekannte, Kollegen, Wildfremde. Jeder auf seine Art und Weise. Dennoch ist es manchmal eine Herausforderung, mit gewissen Reaktionen, Verhaltensweisen, Aussagen umzugehen. Es gibt – zum Glück – sehr wenige Menschen, die sich seit dem Tod meiner Mama zurückgezogen und kaum mehr bei mir gemeldet haben. Aber diejenigen werden ihre Gründe haben. Andere wiederum versuchen, das Thema Mama so weit wie möglich zu vermeiden. Wenn ich etwas erzähle, ernte ich Schweigen oder Beschwichtigen. „Aber du weißt doch, sie lebt in deinem Herzen weiter. Und sei dankbar für eure gemeinsame Zeit“. Ja, tut sie. Und ja, bin ich. So sehr sogar. Aber es ist einfach absolut nicht das gleiche und nur ein kleiner Trost. Was hingegen überhaupt kein Trost ist, sind Aussagen wie „Das Schlimmste ist aber, wenn man sein eigenes Kind verliert“. Kann mir wirklich jemand sagen, ob es für mich etwas Schlimmeres geben könnte?

Mir ist eines total wichtig: Ich schreibe das nicht, weil ich sauer bin. Es ist weder böse noch vorwurfsvoll gemeint. Zum einen meinen es die meisten mit solchen Aussagen gut und wollen mich trösten, zum anderen weiß ich nicht, wie ich früher mit trauernden Menschen umgegangen wäre. Ich schreibe es deshalb – überhaupt diesen ganzen Bericht – weil ich es einfach „sagen“ möchte. Weil es vielleicht irgendwann einen Menschen gibt, der das liest, sich verstanden fühlt und Mut daraus schöpft. Ich kann keine Tipps oder Ratschläge für Trauernde geben. Denn ich habe keine, außerdem ist jede Trauer individuell. Was für mich gilt, gilt noch lange nicht für andere. Eine Botschaft habe ich trotzdem: Man hat so viel mehr Stärke und Kraft in sich, als man sich oft vorstellen kann. Man spürt sie nicht permanent, aber sie sind da.

Außerdem möchte ich mit diesem Beitrag DANKE sagen: DANKE an alle, die einfach da sind. Die mir zuhören, ohne zu beschwichtigen und ohne mich zu bemitleiden. Die es aushalten, wenn ich weine. Die über Mama so toll reden. Die Mama nicht totschweigen, sondern sie weiterhin ins Leben mit einbeziehen. Die mich zum Lachen bringen, die mir Mut machen. Die mich in den Arm nehmen und sagen, dass es so verdammt beschissen ist, aber dass ich das schaffe. Dass wir das gemeinsam schaffen. Die sich trauen, etwas Lustiges zu sagen, wenn ich Rotz und Wasser heule. DANKE so sehr!

Ich glaube nicht, dass dieser Schmerz jemals weggeht – und das meine ich weder verbittert oder selbstmitleidig, sondern realistisch. Während ich jeden Tag kämpfe, mir wieder einen guten Weg aufzubauen – und dafür mache ich echt viel – akzeptiere ich gleichzeitig diesen Schmerz. Er ist halt Bestandteil meines Lebens. Aber je besser ich mein Leben gestalte, desto besser kann ich damit umgehen. Und desto mehr Glücksmomente kann ich wieder genießen. Meine Familie und Freunde, meine Pflege-Eseldamen, mein Laufen, die Natur und diverse Eisdielen: Ihr habt daran einen ganz großen Anteil.

Meine Eselfreundinnen, für die ich so sehr dankbar bin.

6 Antworten

  1. Marlene sagt:

    Hallo Martina,
    Dein Bericht hat mich schon sehr berührt. Das Unfassbare, als Deine Mama so plötzlich gestorben ist und die damit einhergehenden Emotionen kommen wieder hoch. Aber ich freue mich sehr, wie Du trotz aller Trauer ins Leben zurück gefunden hast und das Beste daraus machst. Wir sind alle sehr froh, dass Du ein Teil unserer Familie bist. Wir sind auch stolz auf Deine Marathonläufe und -ergebnisse und freuen uns über deine lustige Eselgeschichten.

    • Martina sagt:

      Liebe Marlene, vielen vielen Dank für deine so lieben Worte! Für überhaupt alles! Ich bin so sehr froh, dass es dich und euch alle gibt. Wenn ich Danke sage, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Das alles werde ich dir/euch niemals vergessen und immer in meinem Herzen tragen. Dass ich Teil der Familie bin – und nicht nur “Gast” – ist so sehr wertvoll!!

      • Claudia sagt:

        Liebe Martina,
        in Deinen Zeilen, Deinen Worten, Deinen Tränen spüre ich, dass die Momente der Trauer, des Vermissens ganz nah an der Freude und des Lachens sein können. Sie liegen, so schizophren das klingen mag, sehr nah beieinander, wenn wir an einen geliebten Menschen denken, den wir für IMMER verloren haben.
        All Deine beschriebenen Gefühle kenne ich zu gut und auch den Frust, wenn die eigene Trauer im Beisammensein mit Menschen, die Dich und Deine Mutter kannten, keinen Raum bekommt. Die Angst vor den Tränen, die sie auslösen könnten, hält sie zurück, Erinnerungen oder Geschichten zu erzählen. Lieber wird das Thema gewechselt und der Verlust totgeschwiegen. Dabei sind es auch oftmals nur Freudentränen, dass es diese Geschichten gab.
        Hier müssen wir dann wieder „stark“ sein und der Ablenkung mutig nachgehen.
        Ich frage mich dabei oft, wer kommt hier mit der Trauer nicht klar?
        Es tut so gut, wenigstens die besonderen Erinnerungen am Leben zu erhalten, die wir in unserm Herzen tragen….denn was am Ende bleibt, ist die Liebe! Und diese Liebe ist bei Dir in jedem Deiner Nachrichten zu 100% zu spüren und sie darf Raum einfordern…
        Ich freu mich sehr, dass Du in kleinen Schritten zeigst, dass Du nicht aufgibst…und deine Liebe wächst!

        • Martina sagt:

          Liebe Claudia, ich danke dir von Herzen für deine berührenden Worte! Ich würde mir immer am liebsten wünschen, dass meine Gefühle niemand nachempfinden kann. Denn alle, die es so richtig nachempfinden können, haben selber einen (oder sogar mehrere) über alles geliebten Menschen verloren. Und dennoch tut es auch gut, wenn Menschen diese Emotionen kennen und dieses “konfuse und komplexe Konstrukt” Trauer verstehen. Ich bin für jeden Menschen dankbar, der meine Trauer aushält – in welcher Form auch immer – und die Stärke hat, einfach da zu sein. Ich muss oft an den Spruch denken, den wir uns für Mamas Todesanzeige ausgesucht haben: “Niemand ist fort, den man liebt. Denn Liebe ist ewige Gegenwart” (Stefan Zweig). Kein Tod hat auch nur ansatzweise die Macht, Liebe zu löschen. Nochmals vielen Dank – und ich wünsche dir auch, dass dich immer ganz viel Kraft und Licht begleiten.

  2. Nina Kreke sagt:

    Liebe Martina, ich habe so lange nicht geschrieben und so deinen großen Schmerz nicht mitbekommen. Es tut mir so unendlich leid. Mich hat es immer sehr berührt, wie eng deine Mama und du waren und wie wichtig es dir war, dass sie bei deinen wichtigen Dingen im Leben, u.a. Läufen dabei war. Was für ein wunderbarer Beitrag – ich werde ihn bestimmt nicht nur einmal lesen. Fühl dich gedrückt, Nina

    • Martina sagt:

      Liebe Nina, ganz ganz lieben Dank! Durch das Schreiben und Veröffentlichen meiner Geschichte habe ich wieder einmal vor Augen geführt bekommen, wie viele so so tolle Menschen ich kenne. Das ist immer wieder überwältigend und so wertvoll. Deine lieben Worte freuen mich sehr – und ich hoffe, dass wir uns irgendwann mal wieder sehen. Dicke Umarmung zurück, Martina

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