Und plötzlich ist man mittendrin

Laufen hilft immer. IMMER. Und schreiben manchmal auch. Um etwas loszuwerden, das so hartnäckig auf der Seele klebt…

Es ist der 22. Juli 2016, in München. Ich trinke meine „Homemade Lemonade“ aus, bezahle, dann verabschieden wir uns. Mit einem Kollegen einer Social Agentur hatte ich gerade ein Meeting in Schwabing – ein Meeting, das mal so richtig Spaß gemacht hat. Wir saßen bei schwülem Sommerwetter draußen und plauderten über Berufliches und über unsere Pläne am Wochenende. Kurz vor 18 Uhr trennen sich dann unsere Wege, ich mache mich zu Fuß Richtung Innenstadt auf. Heute ist mein Namenstag, Magdalena. Bevor ich zurück ins Allgäu fahre, will ich mir noch etwas Gutes tun. Will heißen: Shoppen und Eis essen.

Von der Theresienstraße biege ich in die Amalienstraße, als ich das Martinshorn höre. Mitten auf der Straße steht ein vollbesetzter Polizeibus, und vor dem Bus stehen weitere vier Polizisten, man scheint etwas zu besprechen. Nichts Ungewöhnliches. Erst als mir weitere fünf Polizisten rennend entgegenkommen, irritiert mich das etwas. Solche Szenen kenne ich von der nächtlichen Reeperbahn ja zur Genüge, aber in München… Ich tippe auf meinem iPhone auf „Bild“, will gucken, ob da was ist. Der Seitenaufbau dauert mir aber zu lange, ich wechsle zu Twitter und gebe den Hashtag #münchen ein. Und tatsächlich: Ich finde zwei Tweets, die über eine angebliche Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) berichten. Ich schreibe meiner Mama eine Whatsapp. „In München soll es eine Schießerei geben. Falls du was hörst, mach dir keine Sorgen. Ich bin weit weg.“

Dann latsche ich zu meiner Lieblingseisdiele in der Nähe des Gärtnerplatzes. Zwei Kugeln in der Waffel, Zitrone und Mango. Lecker! Mit meinem Eis in der Hand will ich zurück zum Marienplatz. Ausgerechnet jetzt schlägt das Wetter um, ich bekomme die ersten Regentropfen ab. Aber egal, bis zum Ladenschluss um 20 Uhr ist ja eh Shopping angesagt. Bevor ich am Marienplatz eintrudle, checke ich nochmal die Bild-Seite. Und lese auf einem großen schwarzen Balken die Meldung einer Schießerei am OEZ. Irgendwie fühle ich mich nicht mehr ganz so wohl. Und entscheide, gleich in die Ubahn zu steigen. Mein Auto habe ich in Großhadern geparkt, und dorthin werde ich jetzt mit der U6 fahren. Doch ich komme nicht weit.

Als ich in den Ubahn-Schacht hinunter gehe, kommt mir eine ganze Menschentraube entgegen. Ich höre was von „fährt nix mehr“. Auf den Monitoren flimmert die Meldung, dass der Ubahn-Verkehr komplett eingestellt wurde und dass die Bahnhöfe auf Anweisung der Polizei zu verlassen sind. Langsam werde ich nervös. Ich rufe meine Mama an und berichte. „Ich gehe in Richtung Hauptbahnhof, vielleicht fahren von dort aus Busse“, lasse ich sie wissen. „Pass auf dich auf“, sagt Mama. Mache ich. Inzwischen regnet und stürmt es. Die Fußgängerzone ist – wie immer – überfüllt, überall sehe ich Menschen, die auf ihr Handy starren. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass hier irgendwas Schlimmeres passiert ist. Am Stachus strömen erneut Menschen aus der Unterführung. Jetzt erfahre ich, dass der komplette Nahverkehr lahmgelegt ist. Zum wiederholten Male zücke ich mein Smartphone. Und lese, dass nun auch am Stachus eine Schießerei stattfinden soll.

Genau in diesem Moment rennen drei Polizisten mit einem Maschinengewehr an mir vorbei. Spätestens jetzt ist sie so richtig da, diese verdammte Angst. Was geht hier ab? Flugs informiere ich meine Mama. „Ich laufe zurück in Richtung Marienplatz und suche mir ein Geschäft.“ Es ist 19.20 Uhr, ein bisschen Zeit bleibt mir ja noch. Und vielleicht fahren danach ja die Bahnen wieder. Denke ich. Hoffe ich. Ich will zu TK Maxx, zu einem meiner Lieblingsläden. Doch ich werde abgewiesen. Man lasse keinen herein, es gebe einen Notfall. Hä? Ich bin ein weiteres Mal irritiert. Dann halt ein anderer Store. Vielleicht zu H&M oder in ein Schuhgeschäft. Doch mein weiterer Weg in der Fußgängerzone endet augenblicklich. Mir kommt eine panisch schreiende, rennende Menschenmasse entgegen. Ich höre „Schießerei“, und spätestens jetzt brennen auch meine Sicherungen durch. Ich renne mit, ich schreie mit, ich heule. Ich habe das Gefühl zu stolpern und jegliche Kontrolle zu verlieren.

München – an friedlichen Tagen…

Anders als noch vor wenigen Minuten sind die Türen bei TK Maxx jetzt offen. „Schnell rein“, fordern uns die Security-Männer auf. Ich rase völlig panisch durch den Laden. Um mich herum rennende, schreiende Menschen, die Alarmanlagen gehen an. Als ich am Ende des Ladenraums ankomme, in einer Ecke stehe, bin ich mir sicher: „Hier drin ist ein Täter. Ich habe keine Chance mehr. Das war‘s.“ Es ist dieses Gefühl, dass ich nicht vergessen kann. Dieses Ausgeliefertsein, diese Hilflosigkeit, es ist – sorry – so verdammt scheiße. Und nein, mir zieht nicht mein Leben durch den Kopf oder so. Ich befasse mich ausschließlich mit der Frage, wie es sich anfühlt, wenn mir gleich eine Kugel durch den Schädel jagt. Und: In Endlosschleife zieht sich dieser eine Gedanke durch meinen Kopf: Das kann doch nicht alles gewesen sein!!!

Die Mitarbeiter lotsen uns in einen Lagerraum. Hier stehen wir nun, dicht an dicht gedrängt. Es ist heiß, stickig, keiner weiß, wie es weitergeht. Einige Frauen weinen. Wir bekommen die Info, dass es hier sicher sei. Bei jedem Geräusch zucke ich dennoch zusammen. Zum Glück funktioniert mein Netz. Ich nehme Kontakt mit meiner Mama auf – und mit einem weiteren Menschen, der mir viel bedeutet. Und ich poste bei Facebook. Im Nachhinein fragte ich mich ehrlich gesagt des Öfteren, wie um alles in der Welt ich in so einer Situation auf die Idee komme, bei Facebook zu posten?!?!? Aber es war intuitiv genau richtig. Denn das, was ich in den nächsten Stunden von meinen Freunden erfahre, werde ich nie nie vergessen. Es sind tröstende, aufbauende Worte. Liebevolle Worte. Worte, die mir alles bedeuten.

Nach einer Weile werden wir „verlegt“. Die Anweisung: Alle müssen hintereinander und völlig leise durchs Haus, ganz nach oben, gehen. Die Rolltreppen fahren nicht mehr. Ich steige die Stufen wie parallelisiert hinauf. Wir sind nun in einem Raum, in dem sich die Mitarbeiter-Umkleiden und eine Kantine befinden. Es gibt Wasser und etwas zu essen. Gierig verschlinge ich mein Getränk. Aber ich bekomme keinen Bissen hinunter. Klar, man weiß, dass immer und überall etwas passieren kann. Aber man rechnet trotzdem nicht damit, plötzlich mittendrin zu sein. Regelmäßig erhalten wir Informationen, die sich fast im Minutentakt überschlagen. Terror, flüchtige Täter, der Einsatz der GSG9, der Polizei-Appell, unbedingt daheim zu bleiben. Das Wichtigste für mich ist der Kontakt nach draußen. Der Kontakt zu Mama und meinen Freunden. Zum Glück habe ich mein Ladekabel dabei, mit dem ich auch meinen „Mitinsassen“ aushelfen kann.

Nach einer gefühlten Ewigkeit heißt es, wir müssen das Gebäude verlassen, die Stadt sei im Moment gesichert. Für mich der nächste Schock. Wo um alles in der Welt soll ich denn hin? Es ist dunkel draußen, es fahren keine Bahnen. Einige Mädels um mich herum weinen, weil sie ebenfalls nicht hinaus wollen. Der Gang zum Stachus ist für mich eine echte Herausforderung. Ich hefte mich einem Pärchen an die Fersen. „Wir sind heute hier angekommen und wollen Urlaub machen“, erzählt sie mit Tränen in den Augen. Die Innenstadt gleicht einer Geisterstadt. Am Stachus steht ein Polizeiwagen hinter dem anderen. Ich flüchte schnurstracks in ein Hotel. Dort verharre ich eine Weile, versorge wieder ein paar Menschen mit meinem Ladekabel. Deren Dankbarkeit werde ich nie vergessen. Genauso wenig den Mut und das große Herz meiner Bekannten Tine, die mich gegen Mitternacht am Sendlinger Tor abholt. Und mit mir bis zum frühen Morgen quatscht. Über den Abend, über die Ängste, über Männer und das Leben.

Vergessen werde ich diesen Tag nie. Doch ich bin weder verletzt noch traumatisiert. Es ist ein Schock, den ich verdauen muss, Emotionen, die ich verarbeiten muss. Verändern wird das mein Leben nicht, aber in einigen Dingen vielleicht beeinflussen. So schlimm das Erlebnis war, so großartig sind aber auch einige Erfahrungen. Wildfremde Menschen, die in München ihre Türen öffnen und den „Gestrandeten“ ein Bett für die Nacht anbieten. Die Mitarbeiter von TK Maxx oder des Hotels, die so nett und fürsorglich waren. Die Polizei in München, die einen sensationellen Job gemacht, viel Mut und Professionalität bewiesen hat. Die Menschen verschiedenster Nationen, die um mich herum „fest saßen“ – sie alle waren so nett, so herzlich. Und natürlich meine Mama, meine Freunde. Sie waren da. Vielen Dank für eure Worte! Vielen Dank für euer Mitfühlen! Vielen Dank für euch! Und genau das möchte ich mit in die Zukunft nehmen: Liebe und Freundschaft sind stärker als alles andere.

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